DIE OSTFRAU

Sie tut, was sie für nötig hält, nimmt ihr Leben in die eigenen Hände und lässt sich nie zum Opfer machen. Das Stärkste, was die DDR in die Einheit mitgebracht hat, ist ihre weibliche Seite. Ein Porträt.

Fulda Bahnhof, Gleis 3, 21.30 Uhr, Dienstbeginn. An der menschenleeren Bahnsteigkante steht Sabrina, den Rucksack mit dem Firmenlogo auf dem Rücken. Sie kaut Kaugummi und wartet: eine rundliche Frau mit blonden, gewellten Haaren. Sie ist vierzig Jahre alt, trägt derbe Turnschuhe, eine Dreivierteljeans und ein T-Shirt mit der fetten Aufschrift „Total Life Forever“. Der Zug fährt ein und hält. Sabrina greift mit beiden Händen die Stangen neben der Tür, klettert über drei Sprossen flott hinauf in die Lok, als rette sie sich aus einem tiefen Schwimmbecken ins Trockene. Sie knallt die eiserne Tür des Führerstands hinter sich zu, in dem es nach Hitze und Metall riecht. Sie wirft den Rucksack ab und schwingt sich auf ihren Platz hinter dem riesigen Schaltpult des Taurus. Er ist der Stier unter den Lokomotiven und Sabrinas Liebling. Beim Anfahren lässt er einen ansteigenden Singsang hören, eine C-Dur-Tonleiter, erstaunlich zart für dieses dröhnende, vibrierende Ungetüm. Sabrina summt mit. „Der läuft wie Hulle“, sagt sie und thront in einem Chefsessel mit Kopfstütze und imposanter Federung, die ihren Körper schaukeln und wippen lässt. Ihre goldenen Ohrringe blitzen.

Sabrina ist Lokführerin und muss heute einen Leerzug nach Regensburg bringen. Sie ist allein unterwegs. Zehn Tage am Stück fährt sie im Zickzack durch Deutschland. Jeden Tag eine andere Lok, jede Nacht ein anderes Hotel oder umgekehrt, je nach Dienstplan. Sie herrscht über knapp 10.000 PS und einen 641 Meter langen Zug, der langsam in den grünblauen Sommerabend hinausgleitet.

Sabrina wurde in Berlin-Weißensee geboren. Sie ist das Ergebnis eines Ausrutschers zwischen einem älteren Koch und einer siebzehnjährigen ungelernten Beiköchin. Der Koch hatte anderswo Familie und ließ sich nicht mehr blicken. Die Mutter verprügelte, schikanierte, vernachlässigte das ungewollte Kind. Der Großvater drohte mit einer Anzeige und verlangte das Sorgerecht. Von da an wuchs Sabrina bei ihren Großeltern auf. Der Opa hatte zu ihrer Geburt schon ihren Namen bestimmt und ein Gedicht verfasst. Er brachte die Enkelin zum Schwimmtraining und feuerte sie bei Wettkämpfen an. Als Sabrina neun war, schickte er sie in eine Klasse mit erweitertem Russischunterricht. Er arbeitete als Ingenieur in einer Fabrik für Autoreifen, und wenn er spät nach Hause kam, wartete Sabrina auf ihn, damit er ihr eine gute Nacht wünschen konnte. Als sie zwölf war, starb der Opa. Auf dem Heimweg von der Schule sah sie schon den Krankenwagen vor der Tür. Seither war Sabrina mit der überforderten Oma allein und fing an, sich um sich selbst zu kümmern. Das Grab des Großvaters hat sie bis heute nicht aufgesucht, zur Mutter keinen Kontakt mehr.

Mit vierzehn kam Sabrina in ein Internat für zukünftige Russischlehrer. Von 150 Schülern waren 140 Mädchen, zusammengeholt aus der ganzen DDR. Der Alltag in der Eliteschule war straff organisiert. Sechs Uhr wecken, dreimal die Woche Polit-Information auf Russisch, überwachte Hausaufgabenzeiten, jede Menge Pflichttermine und ein streng reglementierter Ausgang. Sabrinas Leistungen waren sehr gut, nur in Betragen hatte sie immer eine Drei. Ihre Frisur glich damals einem rot gefärbten Handfeger. Als der Internatsleiter sie anwies, sie solle sich gefälligst einen ordentlichen Haarschnitt zulegen, erschien sie am nächsten Tag mit Glatze und flog von der Schule. Das war am Ende der zehnten Klasse. Sie setzte sich in den Zug und fuhr zurück nach Berlin. Als sie dort ausstieg, stand ihr alter Kumpel Mirco auf dem Bahnhof.

In den Sommerferien ging Sabrina zum Berufsberatungszentrum. Sie komme viel zu spät, sagte die Mitarbeiterin, alle Lehrstellen seien längst vergeben. Sabrina ließ nicht locker: „Ick mach allet außer Koch“, sagte sie. Im September fing sie ihre Lehre bei der Deutschen Reichsbahn an, 500 Lehrlinge, ein Mädchen. Im Sommer 1988 beendete sie die Lehre und begann im Rangierdienst zu arbeiten. Im Frühjahr 1989 wurde sie von Mirco schwanger. Im Herbst 1989 kam die Wende.

Streckenkilometer 119, Höhe Ochsenfurth, 23.15 Uhr. Es ist Nacht geworden. Sabrina fährt ohne Computer, verzichtet auf Fernlicht. Sie kennt die Strecke beinahe blind. Im Führerstand ist es so dunkel wie draußen. Nur das Dröhnen der Lok liegt über der Stille. Streckenkenntnis sei entscheidend in ihrem Beruf, sagt sie. Man muss sie erwerben, und sie kann erlöschen. In der Ferne zucken grelle Blitze und entreißen der Schwärze für Sekundenbruchteile wüste Wolkenbilder. Kein Donner ist zu hören. Lautlos zerplatzen dicke Tropfen auf der Frontscheibe. Ein stummes Sommergewitter.

Wegen des Wassers auf den Gleisen beginnt die Lok zu trampeln. Sabrina ahmt das schlingernde Geräusch nach und lässt Sand auf die Schienen, damit die Reibung zwischen Rad und Gleis gewährleistet ist. Dann holt sie den Proviant aus dem Kühlschrank. Die Stullen hat ihr Mirco geschmiert. Mirco ist gelernter Koch, genau wie der Vater, den Sabrina nie kennengelernt hat.

Obwohl nach Mitternacht die Müdigkeit kommt, trinkt Sabrina keinen Kaffee, überhaupt trinkt sie auf Schicht wenig, um nicht aufs Klo zu müssen. Es gibt keins. In Sabrinas Firma arbeiten achtzig Lokführer, darunter sind nur drei Frauen. Sabrina bewegt sich in einer Männerwelt, doch das scheint ihr nicht aufzufallen. Es ist selbstverständlich für sie. Die Männer können in Kaffeebecher pinkeln oder während der Fahrt aus der Tür; sie müsste eben über Funk beim Fahrdienstleiter einen Halt beantragen. Aber jeder Halt ist für Sabrina eine kleine Niederlage. Sie will geschmeidig durchrollen und möglichst pünktlich Feierabend machen.

Nach dem Essen steckt sie sich eine Kippe an, Marlboro Light, die langen. Die Zigarette glimmt in ihren Fingern. Im Taurus hängt ein Aschenbecher mit Klappdeckel an der Wand. Der Regen hat nachgelassen. Ein Güterzug kommt ihr entgegen und blendet die Scheinwerfer auf wie ein dreiäugiges Tier. Sabrina lässt ihre Scheinwerfer ebenfalls aufleuchten und hebt die Hand. Wenn Nachtarbeiter einander begegnen, sind sie freundlich und grüßen. Das Heer derer, die jetzt schlafen, ahnt davon nichts. Dann wischen wieder tote Nester vorüber, kahle Bahnhöfe, Signallichter, Laternen.

Kurz nach der Wende brachte Sabrina ihren Sohn zur Welt. Da war sie zwanzig Jahre alt. Als sie nach dem Babyjahr wieder arbeiten gehen wollte, stand der Zusammenschluss von Deutscher Reichsbahn und Bundesbahn bevor. Man bot ihr an, als Sipo nach Hannover zu gehen, aber Sabrina wollte kein Sicherheitsposten sein, sie wollte auch nicht nach Hannover. Sie nahm die Abfindung und begann eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin, ein Beruf, den ihr das Arbeitsamt nahe legte.

In der Freizeit trainierten Sabrina und Mirco in einer Muckibude, die einem Russen gehörte. Sabrina betrieb den Sport so exzessiv, wie sie als Kind zum Schwimmtraining gegangen war. Mirco machte sich selbständig und gründete ein kleines Fuhrunternehmen. Er nahm einen Kredit auf. Sabrina unterschrieb als Bürge. Die Aufträge blieben aus, und Mirco stand ohne Job, aber mit einem Haufen Schulden da. Statt Arbeit zu suchen, lag Mirco den ganzen Tag auf dem Sofa. Sabrina wusste nicht, wovon sie drei Personen ernähren sollte. Sie zog mit dem Sohn aus, aber dann ertrug sie den Gedanken nicht, ihre Familie zu zerstören und kehrte zu Mirco zurück. Sie schickte ihn zu dem Russen, der neben der Muckibude eine Diskothek besaß. Dort fing Mirco als Türsteher an. Es war der Einstieg ins Milieu.

Irgendwann kam Mirco nach Hause und schlug vor, Sabrina solle auf den Strich gehen. Sie willigte ein. Es war ihre Entscheidung, Mirco hat sie nicht dazu gezwungen. Darauf legt sie Wert. Sie hatten diese Schulden und etwas musste getan werden. Sabrina brach die Umschulung zur Fremdsprachensekretärin ab und legte beim Polizeirevier Ausweis und Aidstest vor. An den Zuhälter, den sie „Loddel“ nennt, zahlte sie pro Schicht 150 Mark Laternenmiete. In der ersten Nacht verdiente sie nicht einen Pfennig.

Dafür lernte sie von erfahrenen Kolleginnen, wie man „eine Falle schiebt“ Und zwischen Handfläche und Wange Oralverkehr vortäuscht. Sie probierte es heimlich an Mirco aus. Das extra dicke Kondom half, die Langhaarperücke verdeckte Sabrinas Gesicht. Mirco merkte nichts.

Seither fuhr das Paar, wenn der Sohn eingeschlafen war, auf Schicht. Sabrina stand als Püppchen verkleidet unter der Laterne, hohe weiße Stiefel, hautfarbene Leggins, ein breiter, knallenger Gürtel, der Kopf versteckt unter der falschen Blondhaarmähne. Wenn es gut lief, kam sie auf fünfzehn Einsätze pro Schicht. Im Akkord stieg sie zu den Freiern in die Autos. Den Preis in die Höhe zu treiben, zu „kobern“, gehörte zur Berufsehre. Jedes Extra kostete. Im Wohnwagen ausziehen – pro Kleidungsstück fünfzig Mark. Intimrasur – tausend Mark. Als ein Freier mit einem Auto voller Luftballons vorgefahren kam, die Sabrina mit ihrem spitzen Stiefelabsatz einzeln zerknallen sollte, gab das ein Monatsgehalt. Montags und donnerstags brachten die Stammkunden, „Stammis“, etwas von McDonalds mit. Mirco und seine Kumpane saßen mit Feldstecher und Notizblock im Auto, schrieben Kennzeichen auf und behielten die Uhr im Auge.

Regensburg Bahnhof, 4 Uhr. Dienstschluss wäre 3.30 Uhr gewesen. Sabrina wartet auf Grün, wartet auf Funk, räumt ihren Kram zusammen, zückt eine Packung Feuchttücher und wischt über das Schaltpult. „Die Huren sind nicht die Opfer. Die wissen genau, was sie tun. Die Freier, das sind die Deppen.“ Sabrina kommt grundsätzlich nicht auf die Idee, sich als Opfer zu schildern, obwohl das bei ihrer Geschichte ein Leichtes wäre. Stattdessen hat sie ihr Leben früh in die eigenen Hände genommen und es nicht mehr losgelassen.

Sie fährt den Leerzug zum Abstellgleis, wuchtet die Tür auf, steigt die Sprossen hinunter, kuppelt ihn ab. Sie bringt die Lok auf den Rangierbahnhof, wechselt den Führerstand, parkt den Taurus hinter einer anderen Lok. Sie sortiert die Fahrbücher in die Schränke und kontrolliert, ob noch genügend Sand vorhanden ist. Die elektronischen Anzeigen erlöschen. Sabrina setzt ihren Rucksack auf. Mit einem großen Schlüssel schließt sie die Lok ab und läuft über Schotter und Bohlen durch die Morgendämmerung zum Bahnhof und weiter in Richtung Hotel.

Mit dem Tag, da alle Schulden beglichen waren, ging Sabrina nicht mehr auf die Straße. Mirco, der sich an das viele Geld gewöhnt hatte, wollte, dass sie weitermachte, aber Sabrina lehnte ab und wurde Aktenpflegerin im Bürgeramt, Abteilung Unterhaltsvorschuss. Jeden Tag sortierte sie acht Stunden lang Papiere, beschriftete, heftete ab. Mirco lag wieder auf dem Sofa, aber sie gab ihm kein Geld, nicht mal für Zigaretten. Nach einem Jahr raffte er sich auf, meldete sich beim Sozialamt und fing schließlich in einem Restaurant hinter dem Tresen an. 1999 wurde Sabrina zum zweiten Mal schwanger. Mit der Tochter blieb sie drei Jahre zu Hause. 2003 absolvierte sie eine Zusatzausbildung für Lokführer. Sie wollte in ihren ersten Beruf zurück, den sie liebte  und noch nie dauerhaft hatte ausüben können. Vor sechs Jahren fing sie bei der Firma an, bei der sie bis heute arbeitet, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das ausschließlich Güter transportiert.

Regensburg Bahnhof, 13.30 Uhr, Burger King. Sabrina hat ausgeschlafen und nimmt ein Whopper Menü als spätes Frühstück. Sie ist gut gelaunt. Dienstbeginn ist 14.30 Uhr. Sabrina streift die Warnweste über, hievt sich den Rucksack aufs breite Kreuz und stapft unter der heißen Mittagssonne zum Rangierbahnhof. Sie schließt die zwanzig Meter lange Lok auf, diesmal ist es eine 189, durch die ein enger Gang führt. Die stählernen Bodenplatten scheppern bei jedem Schritt. Mit Handfeger und Kehrschaufel fegt sie die Schottersteinchen zusammen, die der Vorgänger hier hereingeschleppt hat. Der Zug ist mit Autos beladen, 23 Wagen, 1090 Tonnen. Anhand der Wagenliste füllt Sabrina den Bremszettel aus, berechnet Bremsgewicht und Bremsprozente und gibt alle Zugdaten in den Computer ein. Sabrina meldet den Zug abfahrbereit. 16.54 Uhr Abfahrt nach Plan. Sobald der Zug den Weichenbereich verlässt, kann Sabrina „Strippe geben“. Es geht zurück nach Fulda. Die Lokführerin thront im Führerstand. Die goldenen Ohrringe blitzen wie bei einem Piraten. Kaum zu glauben, dass dieser handfeste Kerl einmal in einem Barbie-Kostüm unter einer Laterne stand. Sie hat einfach getan, was ihr nötig erschien. Da stellt sich die Streckenkenntnis fast von selbst ein.

Manchmal wird sie gefragt, ob sie sich nicht schämt für ihr früheres Hurendasein. Sie schämt sich nicht. „Wenn ich das nicht gemacht hätte, würden wir wahrscheinlich heute noch abzahlen. Wir haben haufenweise Knatter verdient! Für mich gehört das zum Erwachsensein dazu, dass man in den Spiegel guckt und denkt, na ja, das bin ich, fertig. Ich wollte immer eine normale Familie. Und zwar mit Mirco. Erstens ist er wahnsinnig attraktiv. Zweitens ist er mein bester Freund. Und der Vater meiner Kinder. Und meine Hausfrau.“

Auf Höhe Würzburg telefoniert sie mit Mirco, der heute einen Zahnarzttermin hatte. Danach hilft sie der Tochter bei den Hausaufgaben, während sie nebenbei Wachsamkeitstaste und Führerbremsventil bedient. Über Funk weht es bayrische und norddeutsche Sprachfetzen durchs Kabuff, und immer, wenn der letzte Wagen einen Tunnel verlassen hat, erschallt ein quakender Ton. „Sifa! Sifa!“ flötet in regelmäßigen Abständen eine Frauenstimme vom Band. Dann muss Sabrina auf das Pedal der Sicherheitsfahrschaltung unter dem Pult treten, um dem System mitzuteilen, dass sie noch bei Bewusstsein ist, sonst macht die Lok eine automatische Vollbremsung. Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn es im Leben von Sabrina auch jemanden gegeben hätte, der ab und zu nachfragt, ob sie noch alles im Griff hat. Der die Dinge notfalls anhält. Aber den gab es eben nicht.

 21.15 Uhr, Ankunft in „fucking Fulda“, wie die Eisenbahner den Knotenpunkt liebevoll nennen. Sie räumt auf, die Ablöse steht schon am Gleis parat. Sabrina klettert in der Abendsonne rückwärts aus der Lok, als steige sie in ein Schwimmbecken.

Dass sie schwimmen kann, dafür hat seinerzeit der Opa gesorgt. Neuerdings kann Sabrina sogar tauchen. Im letzten Urlaub hat sie mit ihrer Familie in Ägypten einen Tauchkurs belegt. Nur der Sohn reiste nicht mit. Er ist schon einundzwanzig. Er lebt mit seiner Freundin in einer eigenen Wohnung. Die Freundin ist schwanger. Weihnachten wird Sabrina Oma.

(erschienen am 25. September 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus Anlass des 20. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung)