SCHULE DES VERBEUGENS

Richtig ernst wurde die Sache für mich, als ich meine erste Arbeit als Dramaturgin am Theater machte und der Regisseur zur Premiere sagte: „Wir verbeugen uns alle gemeinsam, weil wir so ein tolles Team waren“.

Das schmeichelhafte Gefühl hielt nur kurz. Da stand ich zwischen zwei verstörten und schwarzgekleideten Team-Mitgliedern, hielt mich an deren schweißigen Händen fest und stierte aus der weißen Hitze der Scheinwerfer in ein riesiges, schwarzes, applaudierendes Loch. Ich versuchte, meinen glühenden Kopf zur Brust zu knicken. Es ging nicht. Zu beiden Seiten wurde ich gewaltsam nach vorn-unten gezwungen, wobei ich meinen Nachbarn nicht die Schuld dafür geben wollte, denn die hatten genug mit sich zu tun und waren wie ich nichts weiter als die ferngesteuerten Ausläufer eines irgendwo in dieser Menschenreihe vorhandenen Verbeugungsvermögens. Ich gab mit dem Oberkörper ein kleines Stück nach und musste, um nicht auf die Nase zu fallen, einen Entenarsch als Gegengewicht einsetzen. Die anderen waren trotzdem viel weiter unten als ich. Warum fielen die nicht um? Warum konnte ich nicht weiter? Ich versuchte, in dem wiederholten Auf und Nieder wenigstens die Richtung zu halten, um nicht noch als einsames Stehaufmännchen die Blicke der Leute auf mich zu ziehen. Von dem Lächeln, das ich mir vorgenommen hatte, war nichts mehr übrig außer einem unwillkürlichen Zucken der Oberlippe. In dem Gefühl, zwei Holzbeine und einen steifen Hals zu haben, wurde der Abgang zur Flucht im Passgang. Nie wieder, dachte ich. Schlimmer als das Neptunfest im Ferienlager. Meine Hochachtung vor Schauspielern stieg für diesen Moment ins Unermessliche.

illustration1.png


Ab jetzt verkroch ich mich um so lieber in die plüschige Dunkelheit der Zuschauerräume. Von hier aus sah ich, wie Regisseure auf das Kleid ihrer Hauptdarstellerin latschten oder besoffen hinschlugen, wie Bühnenbildner von ihren selbsterfundenen Schrägen rutschten und sich im Requisitenbrei verhedderten, wie Gegenwartsautoren verzweifelt den Ausgang suchten. Ich erkannte, dass das Verbeugen eine kleine Kunst für sich ist, zu deren Entstehung permanentes Training und ein gewisser Grad an Routine unerlässlich sind. Und wer, wenn nicht die Schauspieler, hatte von Berufs wegen die Fähigkeit zum Verbeugen erworben? Die Frage, der ich mich von nun an widmete, lautete: Wie verbeugen sich Schauspieler?

Ist schon das Publikum in der Lage, sich durch eine Vielzahl von Appläusen ( den begeisterten, den herzlichen, den höflichen, den ratlosen, den gleichgültigen u.s.w.) recht präzise auszudrücken, so kann der Gestaltungswille der Schauspieler während des Verbeugens ein unerhörtes Ausmaß annehmen. Sie, die Routiniers im Verbeugen, nutzen das, was beim Zirkus Finale heißt, um über sich zu erzählen, mitunter so viel, dass der banale Grund ihres letzten Auftritts, sich nämlich für die Aufmerksamkeit der zahlenden Gäste zu bedanken, völlig in Vergessenheit gerät.

Da gibt es den Hauptdarsteller, der die Bühne keuchend und mit einiger Verzögerung betritt, weil er erst den Schweiß abwischen und einen Schluck Wasser trinken musste, der sich schweren Schrittes und gesenkten Hauptes in die Mitte der Bühne bewegt, um dem Saal von dort aus mit letzter Kraft sein erschöpftes Antlitz zuzuwenden, in dem sich später, wenn der Applaus es erlaubt, so etwas wie Erleichterung spiegeln wird, vielleicht sogar ein Hauch von Lächeln. Dieser Mann, ein Hochleistungssportler der Seele, hat alle Zeit der Welt. Er hat vor seinem Publikum nun nichts mehr zu verbergen, fährt sich mit der Hand durchs feuchte, halblange Haar und breitet dann mit einem aufmunternden Blick in die Seitengassen die starken Arme aus, an deren Enden sich flink der Rest des Ensembles einfindet.

Der unkündbare Darsteller aus der dritten Reihe spielt seit Jahren in jedem Stück mit, aber immer nur kleine Rollen in Uniform, Anzug oder schwarzem Umhang. Strammen Schrittes eilt er über die Bühne, verlangsamt nur flüchtig, dreht gerade mal den Oberkörper Richtung Saal, knickt im Laufen zackig den Kopf ab und ist schon wieder verschwunden. Kurioserweise verbringt er während der Verbeugungsordnung sehr viel Zeit auf der Bühne, denn wenn alle nacheinander kommen und sich sammeln sollen, treten die kleinen Rollen zuerst auf und stehen, stehen, stehen, bis das Ensemble endlich vollzählig ist und man Hand in Hand zur Rampe schreitet. In diesen Minuten des Wartens macht der unkündbare Darsteller ein diensthabendes Gesicht und vermittelt den Eindruck, dass er an gar nichts denkt, wirklich an gar nichts.

Die hübsche Hauptdarstellerin Mitte Zwanzig hat zwar den ganzen Abend grandios gemeistert und die Sympathien der Zuschauer gewonnen, kommt jetzt aber in ihrem Eifer zu früh und nimmt ihrem Vorgänger den Applaus weg, was ihr so peinlich ist, dass sie wie ein verwirrtes Reh über die Bühne huscht, albern lächelt, sich die Hand vor die Augen hält und einen hektischen Knicks macht. Beim Abgang stößt sie noch mit ihrem Nachfolger zusammen. Die Herzen der Zuschauer fliegen ihr trotzdem zu, jetzt sogar noch heftiger.

illustration2.png

 


Der ewige Mackie Messer zeichnet sich dadurch aus, dass er sich immer so verbeugt, als hätte er gerade den Mackie Messer gespielt. Egal, wie das Stück heißt, wer noch mitspielt, welche Rolle er heute eigentlich hatte, dieser Darsteller knüpft lückenlos an den einzigartigen Erfolg an, den er in der „Dreigroschenoper“ hatte. Er verbeugt sich nicht für seine aktuelle Bühnenleistung, sondern für sein Lebenswerk. Das sieht mitunter etwas schrullig und verwegen aus, aber es klappt. Ältere Damen und jüngere mit Hang zum Kitsch gehen tatsächlich ins Theater, weil ihr Liebling, „dieser, na wie heißt der denn, na du weißt schon, der damals den Mackie Messer gespielt hat“,  wieder mitspielt.

Die vollschlanke Schauspielerin, die schon sechzig ist, sich aber etwas Mädchenhaftes bewahrt hat, läuft nicht schneller auf die Bühne, als es ihrem großen Busen guttut. Gutmütig verneigt sie sich vor dem Publikum, tritt dann einen Schritt zurück und schaut zu denen, die am Abend die großen Rollen hatten. Oft steht sie neben dem unkündbaren Darsteller aus der dritten Reihe und wartet, bis alle da sind. Sie nimmt dann seine Hand und freut sich irgendwie.

Der junge Mann, den es nach absolviertem Studium an ein kleines Provinztheater verschlagen hat, an dem sie ihm nicht mal Hauptrollen geben, verbeugt sich gezwungenermaßen und mit finsterer Miene. Er steht inmitten alternder Schauspieler, deren Namen er sich nicht merken will, weil sie jegliche Theatervision aufgegeben haben.  Manchmal sucht er sich hinter der Bühne einen Verbündeten, mit dem er, um sich in gute Laune zu bringen, Witze macht. Beim Verbeugen lacht er dann zwar, aber in Richtung Seitenbühne anstatt ins Publikum. Oft fehlt er beim letzten Vorhang, weil er sich schon abschminkt. Er meint, dass er nie zeigen darf, was er kann. Die Kollegen meinen, dass er nicht mal das kann, was er zeigen darf.

Die etwas in die Jahre gekommene Variante von dem jungen Mann ist der Regiegegner, der selber gern Regie führen will, und das vielleicht sogar besser könnte als spielen. Er denkt sich kleine Zeichen des Protests aus und stachelt dann seine Kollegen zum Mitmachen an. Einmal wollte er sich nicht mit dem Kopf nach vorn, sondern nach hinten verbeugen. Die Zuschauer hätten nur Körper mit überstreckten Hälsen ohne Kopf zu sehen bekommen. Nicht verbeugen, sondern öffentlich verbiegen sollten sich alle, denn nichts anderes verlange schließlich der Regisseur. Es ist dann aber doch nicht zu der Protestaktion gekommen.

Die drahtige Schauspielerin um die Fünfzig nimmt zügig ihre Position ein und wirft mit zornigem Schwung den Oberkörper nach vorn und weiter nach unten. Dort lässt sie ihn - das Gesicht dicht vor den Knien -   ungewöhnlich lange baumeln. Endlich kommt sie mit einem Lächeln wieder zu sich. Jeder im Saal hat verstanden, wie gelenkig diese Frau für ihr Alter ist, und dass die mittelgroße Mutterrolle, die sie am Abend zu spielen hatte, sie weit unterfordert hat.

Die Schauspielstudenten rennen als Gruppe auf die Bühne, als Gruppe an die Rampe, als Gruppe wieder ab. Dabei trampeln sie wie ein Horde Wildpferde und der Wind fährt ihnen durchs Haar und durchs Kostüm. Sie bringen Schwung und gute Laune ins Geschehen und applaudieren manchmal den Hauptdarstellern, weil sie auch mal so werden wollen. Nebenbei teilen die Schauspielstudenten mit, dass sie konditionsmäßig noch lange nicht am Ende sind.

Angesichts dieses darstellerischen Aufwands ist es ganz erstaunlich, wie stiefmütterlich die Schauspieler das Einstudieren der Verbeugungsordnung behandeln. Sie wird im Anschluss an die Generalprobe bekanntgegeben; sie einzuüben ist die letzte gemeinsame Tat vor der Premiere. Die Schauspieler sind froh, die Generalprobe überstanden zu haben, und halten sich locker für die Premiere. Sie machen Witze, dösen in irgendwelchen Ecken oder  verspäten sich, weil sie erst in der Kantine Mittagessen wollen; sie können sich nicht merken, nach wem sie auftreten sollen und zu welcher Seite wieder abgehen; wenn sich alle in einer Reihe sammeln sollen, rennt die Hälfte wieder ab, um dann, wenn die Einzelvorhänge dran sind, penetrant auf der Bühne zu verweilen u.s.w. Der Regisseur rauft sich die Haare und kann nicht mehr; die Regieassistentin, die Inspizientin und notfalls die Souffleuse rudern mit den Armen und zischen Kommandos, die keiner versteht oder jeder ein anderes. Je angespannter die Lage wird, um so mehr blödeln die Schauspieler herum - eine wildgewordene Kindergartengruppe, die sich einfachste Abfolgen, die jeder Volkstanzlaie sofort intus hätte, partout nicht merken will. Warum bestehen Schauspieler auf einer Verbeugungsunordnung?

illustration3.png


Sie geben damit wahrscheinlich dreierlei zu verstehen. Zum einen, dass sie sich eigentlich gar nicht verbeugen müssten, weil sie so bescheiden und uneitel sind. Zum zweiten, dass sie enorme Angst davor haben, gar nichts vom „Brot des Künstlers“ abzubekommen und auf offener Bühne zu verhungern. Zum dritten schließen sie auch die Möglichkeit nicht aus, mit ganz besonders viel Brot gefüttert zu werden. Deshalb verweigern sie eine fixe Verbeugungsordnung. Sie beanspruchen viel mehr einen individuellen Verbeugungsfreiraum, in den sie sich von niemandem hereinreden lassen und der dann entsprechend der aktuellen Lage mit den bereits benannten persönlichen Kleinstdarstellungen gefüllt wird. Das Desinteresse für Verbeugungsordnungen ist eine Form von Selbstschutz.

Im Klassischen Ballett gehört das Verbeugen noch zur Choreographie, und das Lächeln der Tänzerinnen unterscheidet sich durch nichts von dem, das sie den ganzen Abend tapfer gelächelt haben. In der Oper tritt die Diva durch den geduldig von den Technikern aufgehaltenen roten Samtvorhang, um endlich ihren Applaus entgegenzunehmen. Sie verneigt sich tief und in großer Pose vor ihrem Publikum, um gleich darauf glückliche Küsse der Erschöpfung bis in den dritten Rang hinaufzuschicken, auch wenn das Theater nur einen Rang hat. Das Orchester steht, wenn der Dirigent das Zeichen gibt, geschlossen auf und setzt sich erst wieder, wenn er die Bühne verlassen hat. In den Nachbarsparten gibt es also ziemlich strenge Standards; Disziplin und traditionsgeformter Stil herrschen vor. Im Schauspiel hingegen gehört die Nichtbewältigung schon zum guten Ton; sie ist selbst der Standard geworden.

Ich finde, dass irgendein arbeitsloser Schauspieler eine Schule des Verbeugens gründen sollte. Es müsste Profi- und Laienkurse geben; Laienkurse für mich und meinesgleichen, für die Regieteams, für Leute, die sich irgendwann in ihrem Leben wahrscheinlich mal verbeugen müssen und sich jetzt schon davor fürchten; Laienkurse, in denen die Grundtechnik überhaupt erst einmal vermittelt wird. Für die Profis, zu deren Beruf das Verbeugen gehört, wäre es eher eine Fortbildung, die den routinierten Verbeuger von jeglichen Mätzchen und Verzierungen befreit, ihn, der vielleicht seit Jahren dem vorbeugenden Gestaltungsdrang erlegen ist, auf die nackte Technik zurückführt. Der Profi käme zur Besinnung, indem er den ursprünglichen Sinn des Verbeugens, der außerhalb seiner selbst liegt, neu entdeckt. Der Laie müsste nicht mehr so aufgeregt sein und sich hoffnungslos ausgeliefert fühlen, er könnte den Applaus vielleicht sogar heimlich genießen.

Beide aber, und das ist das Entscheidende, wären nicht länger mit der eigenen Wirkung beschäftigt, sondern mit der Ausübung eines kleinen, aber feinen Handwerks. Das wäre eine aufrechte Art, sich zu verbeugen und eine neue Chance, den nicht einstudierbaren Moment in den Griff zu kriegen. Und besser sieht es allemal aus.
 

(in gekürzter Fassung erschienen am 27. Dezember 2000 in der FAZ, Illustrationen von F.W. Bernstein)