ZUR DDR OBEN RAUS

Im Herbst 1989 war ich neunzehn Jahre alt, ein flatterhaftes Mädchen, dem nicht selten eine täuschend züchtige Röte ins Gesicht stieg. Am Deutschen Theater Berlin, wo ich ein Praktikum absolvierte, lief ich Karl, dem schönen, dreißig Jahre älteren Schauspieler aus Sachsen, geradewegs in die Arme. Mein liebster Platz war an Karls Seite. Erst sah ich ihm auf der Bühne beim Spielen zu und später in der Kantine beim Trinken. Ich hing an seinen Lippen, die immerzu vom Theater sprachen. Ich klebte an seinen Augen, die glänzen und beinahe schwarz funkeln konnten. Ich versank in seinen Falten, die eine wunde Seele spiegelten. Ich weidete mich an seinem bulligen Körper, der mir vor gewissen Hintergründen plötzlich zart erschien. Karl brachte mir alles bei, was ich über Bühne und Bett wissen musste. Wir hausten in einer zugigen Wohnung im Erdgeschoss, keine hundert Schritte vom Grenzübergang Chausseestraße entfernt, eine ausgestorbene, menschenarme Gegend, in der die leere Straßenbahn ihre Schleife fuhr und regelmäßig in die Stille quietschte. Karl schleppte Briketts aus dem Keller hinauf, ich briet uns Buletten und Bratkartoffeln, und gierig schlüpften wir unter die Decken im selbstgebauten Hochbett. Ich verlor mich in Karls derben Händen, die mich abwechselnd packten und liebkosten. Ich schnurrte, Karl knurrte, ich fiepte, Karl schnaufte, und rieb ich mich an Karl wollüstig und blind in den Schlaf, sang Karl auf sächsisch: Unsre Katze hat Bauchweh, mir tut er dann gleich auch weh.

Mein zweitliebster Platz war der große Saal im Haus der jungen Talente. Jeden Mittwoch ließ ich mich hier mit fliegendem Rock und nackten Füßen über das schweißnasse Parkett wirbeln. Ein Jauchzen in der Kehle, sauste ich von Mann zu Mann, genaugenommen tat ich es dienstlich, denn ich war Mitglied einer Tanzgruppe, die zu einer Folkband gehörte. Auf der Bühne fiedelten die Musiker, wir Tänzer mischten uns unters Volk und verhalfen dem Saal zu einem Walzerrausch. Die Tanzgruppe bestand aus Wehrdienstverweigerern und Theologiestudenten, allesamt Nischenexistenzen, die mit der DDR nicht viel am Hut hatten. Zum vierzigsten Jahrestag ihrer Gründung erhielten wir trotzdem ein Geschenk: eine Auszeichnungsreise der FDJ für verdienstvolle Volkskunstkollektive. Die Tänzer zuckten nicht mit der Wimper. So ein Geschenk lehnte keiner ab. Es ging für drei Wochen nach Kuba.

Ende Oktober verabschiedete ich mich gründlich von Karl, kaufte ihm warme Winterschuhe, saugte ein letztes Mal seinen Duft ein, diese Mischung aus Zigarettenrauch und Abschminke, und stieg in Schönefeld in einen riesigen Airbus. Die Reisegruppe setzte sich vor allem aus Schlagersängern zusammen, die ich für ihren seichten Unterhaltungsmist verachtete. Einer jedoch ließ mein Herz bis zum Hals schlagen: der singende Stahlwerker aus Großenhain! Ich kannte ihn von Schallplatten und Konzerten und verehrte ihn aufs heftigste. Ich schrieb aufgeregt ins extra neu gekaufte Tagebuch: „Wir sind in Windeseile zur DDR oben raus. Schwebe in unfassbaren Höhen überm Atlantik. Muss immerzu nach oben schauen, obwohl ich doch im Himmel bin. Thronicke fliegt auch mit.“

Auf Kuba schlug uns der heißeste Sommer entgegen. Eine herrliche Hitze lag über allem. Gleich am ersten Morgen schlenderte ich gezielt auf den singenden Stahlwerker zu. Er saß am Pool und las in einem Reclam-Buch. Ich schwang mich neben ihn auf die Hollywoodschaukel. Ich sagte ihm, dass ich seine Lieder kannte, dass ich alle Texte auswendig mitsang, dass ich ihn bewunderte. Aber er war nicht eitel. Er erzählte mir von seinem guten, alten Siemens-Martin-Ofen, der niemals still stand, weder Ostern noch Weihnachten, und an dem er Schichten fuhr, am liebsten Nachtschichten. Dann stand Thronicke, seines Zeichens erster Schmelzer, acht Stunden an der Klappe. Der Kran kippte die Schrottmulde aus; Thronicke mengte dem kochenden Metall Kalk bei, prüfte die Schlackebildung und ließ die Schmelze in die Rinne ab. Während Thronicke Schrott zu Edelstahl verwandelte, soff er jede Menge Selters und dachte sich Melodien und Texte aus. Zum Test schrie er sie in das brodelnde Glutmaul. Wenn sie dem Lärm standhielten, waren sie gut. Manchmal raste er direkt von der Schicht zu einem Konzert oder direkt vom Konzert zur Nachtschicht. Er liebte seinen Ofen und seine Musik gleichermaßen, ein Eigenbrötler, störrisch und stolz und treu, der zwei Leben auf einmal führte. Hitze macht mir nichts, sagte Thronicke, aber Urlaub wirft mich völlig aus der Bahn. Wir schaukelten zwischen Palmen und türkisfarbenem Wasser unter einem riesenblauen Himmel, die Sonne auf der müden deutschen Herbsthaut. Wir tummelten uns mitten im atlantischen Idyll und dachten an Güterzüge, Schornsteine, Werkskantinen, an Rußwolken, Asbesthandschuhe und eintausendachthundert Grad Celsius. Thronickes rotes Haar wehte im Südwind; er war kein bisschen schön, ein ausgezehrter Arbeiter, ein intellektueller Prolet, blass und drahtig, mit einer schmalen Nase, noch schmaleren Lippen und einer Nickelbrille, hinter der kleine Augen trieben, was sie wollten. Wenn die Reisegruppe badete und Thronicke mit einem Kopfsprung in den Wellenschaum stieß, lachten die Schlagersänger hinter ihren Spiegelglasbrillen, und ihre speckigen Brustwarzen wackelten. Die Schlagersänger gaben dem Stahlwerker einen Spitznamen: der weiße Hai; es machte ihm nichts aus; ich wich nicht mehr von Thronickes Seite.

Wir stopften uns am Hotelbuffet voll mit Ananas, Garnelen und Pampelmusen. In den Strandbars, jenen windschiefen Hütten aus Holz und Bambus, schlürften wir Daiquirís. Wir lagerten im Schatten der Palmenhaine. Wir schlenderten durch die Straßen von Havanna, schauten in fremde, kubanische Wohnzimmer, dunkle Höhlen, vor deren gekachelten Wänden Fernseher liefen. Thronicke sang mir unfertige Lieder vor und schlug mit den Handflächen den Rhythmus auf seine Oberschenkel. Er schrieb mir ein Gedicht ins Tagebuch, in dem er mich ein verfressenes Wirbelwindchen nannte und sich ein glückliches Wrack. Es ging um Fäden, die leise knacken. Drei Wochen lang führten wir ein nimmer enden wollendes Gespräch, höchstens von ein paar Stunden Tiefschlaf unterbrochen. Unzertrennlich und barfuß spazierten wir an Stränden, wanderten zahllose Meilen, den Blick tagelang auf die Linie zwischen Himmel und Meer gelegt. Wir entwarfen Pläne für mein Leben, die so kühn waren wie die, die Thronicke verwirklichte. Wir ritten auf weißen Pferden dem glühenden Sonnenball entgegen, wir streichelten streunende Hunde, wir tauchten um die Wette. Thronicke lachte traurig, wenn ich um ihn herumhüpfte und ihn in den Sand zog. Beim Küssen gab ich mir große Mühe, damit es ihm gefiel. Er fühle sich alt, sagte er, und ich küsste ihn noch inniger und dachte, dass ich mich mit vierunddreißig auch alt fühlen würde.

Noch in der Nacht ließ uns der Ozean keine Ruhe. Unter dem Sternenhimmel hockten wir klein und nackt beieinander, und ich befühlte die Sehnen und Muskeln unter Thronickes pergamentener Haut. Wir gaben die Hitze des Tages ab, wir schienen zu dampfen, und auch der Sand heizte in der Dunkelheit weiter. Wir glitten durch das schwarze Wasser, wir schwammen im Atlantik, und als ich ihm entsteigen wollte, griff Thronicke auf der Grenze zwischen Meer und Land nach mir. Er packte mich hinterrücks an den Hüften. Dass er dazu fähig war, hatte ich seiner Stimme von Beginn an abgelauscht. Die Haare trieften, von unseren Körpern tropfte es, auf unserer Haut klebte der Sand, grobkörnig und voller Muschelsplitter. Mit den Stößen schossen die Wellen über uns hinweg, im Rücksog rasten sie schäumend unter uns hindurch. Es trieb uns vorwärts, es warf uns zurück, ich krallte mich im Schlamm fest, der Stahlwerker krallte sich an mir fest, jeder Halt kam uns abhanden, es spuckte uns ins Trockene, es riss uns ins Meer, die Grenze löste sich auf, jede Gewissheit fehlte. Halb Katze, halb Fisch, stemmten wir uns gegen die Wucht des Ozeans, er spülte uns fort, er fraß uns auf, der Boden wich, sackte, gab nach, unter meinen Händen verschwand das Land, es zerrann, es zerfiel, wir schluchzten, zwei Gewalten tobten, ein übermächtiger Akt, dem wir uns ohne Besinnen auslieferten. Der Sand rieb unsere Schenkel wund, das Salz biss in unseren Augen und machte unsere Lippen bitter, unsere Knie bluteten in jener Nacht unter Kubas Sternen.

 

Mitte November flogen wir zurück in die Heimat. In der DDR war der Winter ausgebrochen. Wegen eines Schneesturms musste der Airbus auf den Dresdner Flughafen ausweichen. Eine vom Sonnenbrand leuchtend rote Reisegruppe stieg aus dem Flugzeug. Dreißig Winnetous auf Badelatschen starrten in den fahlen Himmel, aus dem es Flocken schüttete. Wir wurden in einen Bus verfrachtet, der uns in die Hauptstadt bringen sollte und träge über die Autobahn knatterte, eine Schneepiste, auf der sich die Kolonnen stauten. Alle Welt war nach Berlin unterwegs. Der Busfahrer drehte das Radio laut auf, die Schlagersänger jubelten wie verrückt, fielen sich in die Arme, köpften Sektflaschen. Ich saß neben dem Stahlwerker, der stumm blieb, und hielt mich an seiner Hand fest. Nicht weit von hier wohne er, sagte Thronicke irgendwann und stieg einfach aus. Ich wischte ein kleines Stück der beschlagenen Scheibe blank und blickte ihm nach. Er stapfte, das Gepäck auf dem Rücken, querfeldein. Die Flocken stoben ihm entgegen. Er stemmte sich gegen das Schneetreiben. Er schritt hinaus in eine konturlose Landschaft. Hitze macht mir nichts, hatte er gesagt, aber Urlaub wirft mich völlig aus der Bahn. Thronicke ging nach Hause zu Frau und Kindern. Ich hörte nicht auf zu schauen, bis der weiße Nebel den singenden Stahlwerker als winzigen Punkt verschluckte.

Die ausgestorbene Gegend um die Chausseestraße hatte sich in eine Aufmarschzone verwandelt.

Menschenmassen strömten in Richtung Grenze, bildeten Schlangen davor und zückten Personalausweise. Menschenmassen strömten zurück, beladen mit Hi-Fi-Anlagen und Woolworth-Tüten, in den Augen das pure Glück. Ich drängelte mich durch das Gewühl, benutzte meinen Rucksack als Schutzschild und erreichte keuchend die zugige Erdgeschosswohnung. Karl schleppte unbeirrt Briketts, feuerte für uns ein, und als ich sah, dass Karl in die Glut starrte wie Thronicke in den Siemens-Martin-Ofen, spürte ich die täuschend züchtige Röte in mein Gesicht steigen, was der Sonnenbrand zuverlässig vor Karl verheimlichte. Ich muss dir etwas sagen, sagte ich. Ich dir auch, sagte Karl. Ich weiß schon, sagte ich. Ich auch, sagte Karl. Wir krochen im Hochbett unter die Decken, lagen beieinander, lauschten auf die quietschende Straßenbahn und die krakeelenden Leute, die unaufhörlich ein- und ausstiegen. Ich zitterte. Karl weinte. Ich hörte sein Herz schlagen. Wir verhielten uns mucksmäuschenstill. Ich schrieb ins kubanische Tagebuch: „Ich bin fremdgegangen. Das ganze Land ist fremdgegangen. Ich will auch singender Stahlwerker werden.“

In den Monaten danach lösten sich die Tanzgruppe und die DDR auf. Thronicke musizierte unbeeindruckt weiter, auch als sie ihn als IM enttarnten. Sein Erfolg wuchs, auch als sie Thronickes Stahlwerk schlossen. Er wurde arbeitslos, schulte auf Klempner um, bekam mit seiner Frau ein drittes Kind, das Mädchen Frieda, und starb mit zweiundvierzig Jahren auf dem Weg zum Konzert bei einem Autounfall. Ich verließ Karl im Jahre 1994. Mit meiner Nachfolgerin zeugte Karl einen Sohn, Leopold, und als der Junge zwei Jahre alt war, starb Karl an Lungenkrebs und weil sie ihn am Theater nicht mehr brauchten. Ich bin heute neununddreißig, fühle mich manchmal alt und kenne viele Tote. Das Fremdgehen habe ich mir praktisch abgewöhnt.

(erschienen in „Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989“ Herausgegeben von Renatus Deckert, Suhrkamp, 2009)